Was dahinter steckt
Meine erste Erinnerung an Absinth kann ich um die JahrhundertJahrtausendwende verorten. Für einen Filmabend mit der Clique wurde sich in der Videothek (sowas gab es damals noch!) auf DVD (sowas gab es damals schon!) das (damals!) kürzlich erschienene „Musical-Filmdrama“ Moulin Rouge ausgeliehen. „Es gibt nichts einfacheres, als diesen Film in der Luft zu zerreissen“, tat ich kurz darauf und für lange Zeit auch, aber darum soll es in diesem Artikel nicht gehen. Nur so viel sei gesagt: Wenig ist mir von diesem Werk all die Jahre in Erinnerung geblieben.
Erstens, dass ich den Film zwar gesehen, aber nicht verstanden habe. (Heute ist es umgekehrt: Als „Vorbereitung“ zu diesem Artikel habe ich versucht, mir den Film noch einmal anzusehen. Die Handlung habe ich mittlerweile verstanden nachgelesen, vor den schnellen Schwenks und Schnitten musste ich jedoch nach wenigen Minuten kapitulieren – ich bin zu alt für diesen Scheiß).
Zweitens, dass irgendwann Kylie Minogue als grüne Fee aufgetaucht ist und in den sprichwörtlich „höchsten Tönen“ ein Lied geträllert hat. Auch rund zwanzig Jahre später ist das die Szene, die ich mit diesem Film verbinde – die erste und einzige, die mir in den Sinn kommt, wenn ich mich an den nämlichen Abend zurückerinnere.
Die Figur der grünen Fee ist untrennbar mit dem Absinth verbunden. Je nach Auslegung ist sie im Absinth heimisch („wohnt“, „lebt“ im Absinth) oder verkörpert die Seele des Absinths selbst. Sie verlockt und verführt, vertilgt und verdirbt. In Moulin Rouge wackelt Kylie im einen Moment aufreizend mit ihrem Feenarsch und flirtet augenzwinkernd den Zuschauer an, im anderen Moment verzieht sie ihr Gesicht zur Fratze und stiert ihm durch die Mattscheibe mit ihren blutrotleuchtenden Augen entgegen.
Schon rund zehn Jahre zuvor warnt Dracula in der Verfilmung von Francis Ford Coppola beim Dinner mit Mina: „Absinthe is the aphrodisiac of the self. The green fairy who lives in the absinthe wants your soul.“
Die grüne Fee wandelt in ihrem Charakter also zwischen märchenhafter Elfe und verführerischer Sirene (sorry, Kylie, Wortspiel nicht beabsichtigt). Sie bemächtigt sich der Seele derer, die Absinth trinken, bezirzt sie und verdreht ihnen den Kopf, bis sie dem Wahnsinn anheim fallen und sich vielleicht das Ohr abschneiden. Die typische femme fatale also, zentrales Motiv und Antagonistin so vieler Erzählungen über so viele Jahrhunderte – in der griechischen Mythologie, in der Bibel oder in der Belle Époque.
Wer hat’s erfunden?
Wenn die Frage so gestellt ist, kann die Antwort nur lauten: Die Schweizer. Wahlweise schreibt man die Erfindung des Absinths einer alten schweizer Kräuterhexe namens Henriette Henriod oder einem französischen (aber aus politischen Gründen in die Schweiz geflüchteten) Arzt namens Dr. Ordinaire zu. Beiden Geschichten gemein ist, dass sie sich Ende des 18. Jahrhunderts in Couvet, einer Ortschaft im Val de Travers, zugetragen haben sollen. Und natürlich – wie bei so vielen Spirituosen (vor allem bei welchen, die auf Kräutern basieren) – soll(te) auch der Absinth eine heilende bzw. medizinische Wirkung besitzen.
Fun Fact: Anders als sein Name vermuten lässt handelt es sich beim Val de Travers (deutsch: „querliegendes Tal“) jedoch um kein Quertal, sondern um ein „normales“ Längstal.
In diesem Tal wurde ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in weiten Landstrichen Wermutkraut, der zentrale Bestandteil von Absinth, angebaut. Das Tal entwickelte sich alsbald zur Hochburg der Absinth-Produktion – nicht nur bis zum Verbot im Jahr 1910, sondern auch noch lange darüber hinaus. Wenn du dich für die Situation vor Ort interessierst, kann ich dir die Dokumentation „Absinth-Schwarzbrenner“ aus dem Jahr 1961 empfehlen, gefunden im Archiv des SRF.
Wer hat’s getrunken?
Absinth galt (gilt?) als das Getränk der Dichter und Denker, der Künstler und Kreativen, der Intellektuellen und denjenigen, die sich dafür halten; kurz: der Bohème. Absinth zu trinken – öffentlich und in schöner Regelmäßigkeit – galt als chic. Es gab sogar eine passende Uhrzeit dafür, die heure verte („grüne Stunde“) von 17 bis 19 Uhr.
Bekannte Absinth-Trinker aus diesem Kreis waren Edouard Manet, Pablo Picasso, Vincent van Gogh, Paul Gauguin, Ernest Hemingway, Oscar Wilde u. v. a. m. Die grüne Fee war Muse der Künstler und Gegenstand ihrer Werke zugleich. Mehr als einmal dürfte sie bei der Entstehung wohl selbst den Pinsel geführt oder die ein oder andere Zeile diktiert haben. So haben wir den eingangs erwähnten Personen nicht nur Gemälde und Literatur, sondern auch eine Unzahl an Zitaten zu diesem Getränk zu verdanken.
Die Künstler selbst zeichnen – im wörtlichen wie übertragenen Sinne – in ihren Werken häufig ein ganz und gar anderes Bild des typischen Absinth-Trinkers als man es vermuten könnte. Die Motive wirken nämlich ganz und gar nicht wie von der Muse geküsst, beflügelt und inspiriert, sondern teilnahmslos, desinteressiert und gleichgültig.
Sieht man einmal von der unspektakulären – nichtsdestotrotz populären – Darstellung von Édouard Manets „Absinthtrinker“ ab (zum Zeitpunkt der Entstehung ab 1859 war es eine der frühesten Darstellungen von Absinth in der Malerei), so blicken doch alle Gestalten etwas stumpfsinnig drein.
Warum ist das so?
Absinth war nicht nur Quell der Inspiration für die „Bohème“. Absinth war vor allem eine billige Droge für Arbeiter, Tagelöhner und kleine Angestellte aus den unteren Milieus.
Was ist drin?
Hauptbestandteile des Absinths sind Anis, Fenchel und der namensgebende Wermut (lateinisch: artemisia absinthium). Sie verleihen dem Absinth seinen charakteristischen Geschmack. Darüber hinaus werden auch noch eine Reihe weiterer Kräuter verwendet, je nach Rezeptur z. B. Ysop, Zitronenmelisse, Angelika, Koriander, Veronica, Wacholder, Muskat etc. Aus Kostengründen wird der „richtige“ Anis heute teilweise durch den billigeren Stern-Anis ersetzt.
Doch zurück zum Wermut. Dieser zeichnet sich nicht nur verantwortlich für den Namen, sondern auch für die Mythen und Legenden, die sich um den Absinth ranken.
Der Wermut selbst ist eine krautige, knie- bis hüfthohe Pflanze mit silbrig-grünen Blättern. Was den Wermut jedoch so besonders macht, ist nicht sein Aussehen, sondern sein ätherisches Öl. Dieses besitzt nämlich einen vergleichsweise hohen Gehalt an Thujon.
Fun Fact: Der Wermut als eine Hauptzutat gibt nicht nur dem Absinth seinen Namen, sondern ebenfalls dem Wermut, also Vermout(h), dem aufgespriteten, mit verschiedenen Kräutern versetzten Wein. Auffallenderweise stand hier ein Verbot nie zur Debatte – vielleicht weil die Herstellung und der Vertrieb von Wermut eher zusätzliches Standbein denn Konkurrenz für die Winzer gewesen ist?
Was ist dran?
Auf dem Höhepunkt seiner Popularität stand das Getränk in dem Ruf, aufgrund seines Thujon-Gehalts abhängig zu machen und schwerwiegende gesundheitliche Schäden hervorzurufen.
Thujone (Synonym: Absinthol) sind in den ätherischen Ölen von Thuja (Namensgeber Nr. 1) und Wermut (lateinisch: artemisia absinthium und damit Namensgeber Nr. 2) enthalten. Obwohl es mehrere Arten von Thujonen gibt, verwende ich im Folgenden der Lesbarkeit halber nur den Singular „Thujon“ als Oberbegriff.
Thujon ist ein Nervengift, genau wie Alkohol, Nikotin oder Koffein.
Wie überall macht auch hier die Dosis das Gift.
In höheren Dosierungen ruft Thujon Verwirrtheit und epileptische Krämpfe hervor (das ist schlecht). In Kombination mit alkoholischen Getränken treten auch Schwindel, Halluzinationen und Wahnvorstellungen auf (je nach Halluzination und Wahnvorstellung ist auch das schlecht). Aber: In Form von Absinth sagt(e) man ihm eine euphorisierende und aphrodisierende Wirkung nach. Das klingt doch erst einmal gut, darf man heute aber nicht mehr sagen (siehe „Verhaltensregeln des Deutschen Werberats über die kommerzielle Kommunikation für alkoholhaltige Getränke“, Punkt Nr. 8). Vielleicht waren ja genau diese Eigenschaften der Sittenpolizei um die Jahrhundertwende ein Dorn im Auge?
In ihrer Studie „Chemical Composition of Vintage Preban Absinthe with Special Reference to Thujone, Fenchone, Pinocamphone, Methanol, Copper, and Antimony Concentrations“ untersuchen Dirk W. Lachenmeier et al. dreizehn Absinthe aus der preban era, d. h. aus der Zeit, bevor der Absinth verboten wurde, hinsichtlich ihrer Inhaltsstoffe und Zusammensetzung. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass der durchschnittliche Thujon-Gehalt damals bei lediglich 25 mg/l lag. Wie immer bei Durchschnittswerten gibt es Ausreißer nach oben und unten, doch selbst der höchste gemessene Wert beträgt nur 48,3 mg/l.
Heutzutage sind – im Falle von Absinth – maximal 35 mg Thujon pro kg Alkohol erlaubt. Das ist bei Weitem zu wenig, um high zu werden – genauso gut könnte man versuchen, sich mit Mon Chéri zu betrinken. Wie und warum Thujon wie eine Droge wirkt, beschreibt Richard W. Olsen in seinem Artikel „Absinthe and γ-aminobutyric acid receptors“. Spoileralarm: Dass Thujon wie THC (respektive Cannabis, Marihuana) wirkt oder mit diesem verwand ist, ist ein Missverständnis aus den 1970ern (siehe „Marijuana, absinthe and the central nervous system“ von J. del Castillo, M. Anderson, G. M. Rubottom), das sich jedoch bis in die Gegenwart hartnäckig als Gerücht hält.
Zwischenfazit: Anfang des 20. Jahrhunderts machte man für die unerwünschten Nebenwirkungen also tatsächlich und hauptsächlich die rund 25 Milligramm Thujon pro Liter Absinth verantwortlich, und nicht etwa die rund zwei Drittel Alkohol pro Flasche.
Alleine auf den Alkoholgehalt abzustellen, liefert aber auch keine zufriedenstellende Begründung dafür, dass Absinth schädlicher (gewesen) sein soll als andere Spirituosen. Zwar enthält Absinth einen außergewöhnlich hohen Anteil Alkohol, allerdings wurde Absinth damals i. d. R. nicht pur getrunken, sondern im Verhältnis von 1:1 bis 1:5 mit Wasser verdünnt. Durch das Strecken mit Wasser konnte man sich auf kostengünstige Weise das Recht sichern, stundenlang in der Bar oder im Bistro seiner Wahl auszuharren und einen Tisch zu blockieren.
Ich habe ein bisschen herumgerechnet: Bei einer Verdünnung von 1:1 entsprach der Alkoholgehalt des Getränks ungefähr dem von einem Double Shot (60 ml) Jägermeister, bei einer Verdünnung von 1:4 bis 1:5 dem von einem Glas Wein (die handelsübliche Maßeinheit im Restaurant reicht von einem Deziliter, also 0,1 Liter, bis zu einem „Viertele“, also 0,25 Liter).
Die Details könnt ihr der folgenden Tabelle entnehmen. Die Rechnung ist vereinfacht (ohne Dichtebestimmung) und berücksichtigt keine Volumenkontraktion beim Mischen von Alkohol und Wasser. Sie stellt ein Gedankenspiel dar und dient lediglich als grober Anhaltspunkt.
Mischungsverhältnis | pur | 1:1 | 1:2 | 1:3 | 1:4 | 1:5 | 1:6 |
Absinth mit 66% Vol. | 30 ml | 30 ml | 30 ml | 30 ml | 30 ml | 30 ml | 30 ml |
- davon Alkohol | 20 ml | 20 ml | 20 ml | 20 ml | 20 ml | 20 ml | 20 ml |
Wasser | 0 ml | 30 ml | 60 ml | 90 ml | 120 ml | 150 ml | 180 ml |
Summe Flüssigkeit | 30 ml | 60 ml | 90 ml | 120 ml | 150 ml | 180 ml | 210 ml |
- davon Alkohol in % Vol. | 66,67 % | 33,33 % | 22,22 % | 16,67 % | 13,33 % | 11,11 % | 9,52 % |
entspricht in etwa dem Alkoholgehalt von … | Overproof Rum | Jägermeister | Campari | Baileys | Rotwein | Weißwein | Starkbier |
Weder der niedrige Thujon- noch der hohe Alkoholgehalt per se können also für den schlechten Ruf von Absinth verantwortlich gemacht werden.
Was dann?
Um seiner Rolle als Massendroge für jedermann, insbesondere aber für die ärmeren Gesellschaftsschichten, gerecht werden zu können, musste Absinth vor allem zweierlei sein: in großen Mengen verfügbar und billig. Im Jahr 1912 betrug der Jahreskonsum von Absinth in Frankreich rund 220 Mio. Liter; ein Glas kostete dabei nur etwa 3 Sous (was – bei allen Messungenauigkeiten – „wenig“ war und in etwa dem Preis für einen Café au lait entsprach). Der für Absinth verwendete Alkohol war also größtenteils industriell hergestellter, billiger und qualitativ minderwertiger Alkohol.
Die eigentlichen Probleme mit dem Absinth dürften tatsächlich wohl folgende gewesen sein:
Warum wurde Absinth verboten?
Es steht außer Frage, dass übermäßiger und unkontrollierter Alkoholkonsum schädlich ist. Auffallend ist jedoch, dass nur der Absinth verboten werden sollte bzw. verboten wurde (die einige Jahre später einsetzende Prohibition in den USA lassen wir für den Moment einmal außer Acht).
Ich sehe dafür zwei Gründe.
Lobbyismus
Insbesondere die Weinindustrie unterstützte das Verbot. Seit Jahrzehnten stand sie in direktem Wettbewerb mit den Absinth-Herstellern – und zwar auf der Verliererseite. Durch das Verbot wollte man sich also der ungeliebten Konkurrenz entledigen. Diese Motivation dürfte auch auf die Hersteller anderer alkoholischer Getränke übertragbar sein.
Populismus
Irgendjemand oder irgendetwas muss immer schuld sein. An allem was bei einem selbst oder in der Welt so schief läuft. Ende des 20. Jahrhunderts waren das Computerspiele, Anfang des 20. Jahrhunderts war das Absinth: „Absinth macht kriminell, führt zu Wahnsinn, Epilepsie und Tuberkulose und ist verantwortlich für den Tod tausender Franzosen. Aus dem Mann macht Absinth ein wildes Biest, aus Frauen Märtyrerinnen und aus Kindern Debile, er ruiniert und zerstört Familien und bedroht die Zukunft dieses Landes“ (nach Barnaby Conrad: Absinthe: History in a Bottle. Chronicle Books, San Francisco 1997).
Ein spektakulärer Mordfall in der Schweiz aus dem Jahr 1905, bei dem der Täter vor seiner Tat – neben vielem anderen – auch Absinth getrunken haben soll, gilt heute als ausschlaggebend für die bald darauf folgenden Absinth-Verbote:
- Schweiz 1910 (bis 1999)
- USA 1912 (bis 2007)
- Frankreich 1915 (bis 2011)
- Deutschland 1923 (bis 1981/1991)
Paretoprinzip
An dieser Stelle möchte ich noch ein paar weitere Überlegungen niederschreiben, die ich im Rahmen der Betrachtung des Absinth-Verbots angestellt habe. Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist das Paretoprinzip.
Das Paretoprinzip besagt, dass 80 % der Ergebnisse mit 20 % des Gesamtaufwandes erreicht werden.
Wie bereits erwähnt ist Alkohol ein Nervengift und übermäßiger und unkontrollierter Alkoholkonsum schädlich. Wenn Absinth den größten Anteil am Alkoholkonsum der Gesellschaft ausmacht, dann kann mit einem Absinth-Verbot schnell und mit vergleichsweise wenig Aufwand die gewünschte Wirkung (Senkung des Alkoholkonsums) erzielt werden.
Ob der Erfolg von Dauer ist, hängt jedoch von verschiedenen Faktoren ab:
- Kann ein Absinth-Verbot überhaupt um- bzw. durchgesetzt werden (d. h. kann die Einhaltung kontrolliert bzw. Nicht-Einhaltung sanktioniert werden)? Die Erfahrungen aus der Prohibition in den USA zeigen, dass die Umsetzung eines Alkoholverbots schwierig ist.
- Sind die Substitute in entsprechender Menge und zu einem entsprechenden Preis verfügbar?
- Weichen Konsumenten auf diese Substitute aus (z. B. Wein)? Geht es beim Absinth-Genuss nur um das Ziel (den Rauschzustand) oder auch um den Weg dorthin (das Trinkritual zur grünen Stunde)?
- Wie verändert sich das Konsumverhalten im Laufe der „Goldenen Zwanziger“ bis zur Weltwirtschaftskrise (Ende der 1920er, 1930er)? Wer sich teure Spirituosen in den Boom-Jahren nicht hat leisten können, dürfte diese erst recht nicht in der Rezession konsumiert haben.
Dem Absinth-Verbot dürfte dann Erfolg beschieden gewesen sein, wenn es um- und durchsetzbar war und es wenig Substitutionsmöglichkeiten gab. Eine weitere Analyse sprengt jedoch den Rahmen dieses Artikels.
Warum wurde Absinth wieder erlaubt?
Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs gelangte Absinth in den 1990er Jahren zu neuem Ruhm als Szene-Getränk. „Vier Jungunternehmer entdeckten, daß [sic!] Absinth in Großbritannien niemals formal verboten wurde, und importierten das halluzinogene Teufelszeug aus Tschechien“ (Spiegel 53/1998). Böse Zungen behaupten, dabei handelte es sich lediglich um gefärbten Wodka.
Von Großbritannien aus eroberte der Absinth alsbald wieder das kontinentale Europa. Verkaufsfördernd dürften einerseits die ihm anhaftenden Mythen – wir erinnern uns an euphorisierend und aphrodisierend – gewirkt haben, die beispielsweise in Dracula, From Hell oder eben auch, nunja, in Moulin Rouge medial in Szene gesetzt wurden. Auch der Reiz des (lange Zeit) Verbotenen weckt(e) naturgemäß die Neugier der Konsumenten. Es handelt sich aber auch im wahrsten Sinne des Wortes um „das Spiel mit dem Feuer“, welches den Absinth als Szene-Getränk etabliert hat. Denn das „Böhmisches Ritual“, bei dem der Absinth in irgendeiner Form flambiert wird, ist keinesfalls historisch belegt, sondern lediglich eine geschickte Marketing-Masche der Hersteller und Verkäufer.
Nun kann man sich freilich über die Art und Weise mokieren, wie und wo sich der Absinth in den letzten Jahren etabliert hat. Vertreter der (neuen) „Bohème“ – oder solche, die sich dafür halten -, die ihren Absinth so trinken wie vor 100 Jahren, mögen all diejenigen belächeln (verurteilen?), die sich auf Junggesellenabschieden in Prager Kellerkneipen mit einem knallgrünen Shot nach dem anderen abschießen.
Es ist jedoch schwer von der Hand zu weisen, dass genau diese Szene maßgeblich dazu beigetragen hat, auch den „klassischen Absinth-Genuss“ wieder zu ermöglichen.
Wie er gemacht wird
Mixology
Der „Cocktail“ in seiner Urform bestand lediglich aus einer Spirituose, ein bisschen Zucker, ein bisschen Wasser und ein paar Spritzer Bitters. Diese Art der Cocktailzubereitung wurde schon Anfang des 20. Jahrhunderts als „Old Fashioned“ (altmodisch, besser: althergebracht) bezeichnet.
Genauso wie man einen Whisky Cocktail (heute der Old Fashioned), einen Gin Cocktail oder einen Brandy Cocktail zubereitet, kann man eben auch einen Absinth Cocktail zubereiten. Mit Absinth wurden auch einige „ältere“ (pre prohibition) Cocktails wie der Martini, Manhattan oder sogar der Old Fashioned (also der mit Whiskey!) aufgepeppt (vgl. „Bartenders‘ Manual“ von Harry Johnson aus dem Jahre 1900 oder „Hoffman House Bartender’s Guide“ von Charley Mahoney aus dem Jahre 1912). Darüber hinaus finden sich „einige Spritzer Absinth“ in einer Unzahl weiterer Cocktailrezepte!
Im „Bartenders‘ Manual“ aus dem Jahre 1900 beschreibt Harry Johnson verschiedene Arten, Absinth zu trinken:
- Old Fashioned (mit Zuckersirup und Bitters)
- American Style (mit doppelt soviel Zuckersirup)
- Italian Style (mit Maraschino-Likör)
- German/Swiss Style (mit Wasser verdünnt). „The Germans and the Swiss have the simplest way of drinking absinthe…“ – dabei wird der Absinth lediglich mit einer beliebigen Menge Wasser verdünnt. Deutsche und schweizer Absinthe waren etwas milder – auch der Alkoholgehalt war i. d. R. niedriger – und nicht so bitter bzw. kräuterig wie französische; daher war der Zucker als „geschmacklicher Gegenspieler“ entbehrlich.
- Parisian/French Style (mit Zuckerhut und „Zange“, Eiswasser). Die Beschreibung kommt dem, was wir heute als „Französisches Ritual“ kennen schon sehr nahe:
„When a gentleman comes into a cafe and sits down and gives his order to the waiter for his absinthe, the latter puts before the customer the bottle of absinthe as well as a bottle of anisette, a piece of loaf sugar, a pair of tongues to hold the sugar, and a decanter or pitcher of ice water; the customer puts his absinthe into the large absinthe glass, and as much of it as he desires; then places the sugar tongues across the top of the glass, and the sugar on top of the tongues; pours a few drops of anisette on top of his sugar, according to his taste; and he then fills up the absinthe glass with ice water until the absinthe has a milky, cloudy appearance.“
Hinweis: Die Formulierung „a pair of tongues“ erinnert mich an eine „Zange“, wie sie auch bei einer Feuerzangenbowle verwendet wird; damit ist also der Absinth-Löffel gemeint (allerdings weiß ich nicht, wann dieses spezielle Hilfsmittel erfunden bzw. ab wann es benutzt wurde).
Heute unterscheidet man im wesentlichen zwei Rituale: Das Französische Ritual und das Böhmische Ritual.
Das Französische Ritual
Das Französische Ritual ist historisch in Schrift und Bild belegt. Man platziert einen oder zwei Würfel Zucker auf einem Absinthlöffel und legt diesen dann über den Rand des (Absinth-) Glases. Nun träufelt man langsam(!) eiskaltes Wasser über den Zucker, bis sich dieser aufgelöst hat und durch die Perforation des Löffels ins Glas gespült wurde. Die langsame Gabe von Wasser soll dem Absinth Zeit geben, seinen vollen Geschmack zu entfalten, indem die ätherischen Öle (bzw. deren Bestandteile) herausgelöst werden. Gleichzeitig setzt im Glas der Louche-Effekt ein, also die Trübung des Absinths durch das kalte Wasser.
„Dieses Ritual erinnert an eine Art Transformationsmythos, wenn das klare Smaragdgrün sich einem Nebel gleich eintrübt. Es ist der Vollzug einer kleinen, alltäglichen Opferhandlung. Jenseits der Berauschung oder lediglich einer kleinen Stimulanz wirkt allein schon die bloße Handlung in höchstem Maße stilisiert. Und dann wird sie schon mal zum Offenbarungsakt überhöht.“ (Quelle: SWR2 Musikpassagen, Die grüne Fee – Der Absinth in der Kultur, Harry Lachner)
Im einfachsten Falle gießt man aus einer Karaffe vorsichtig und so langsam wie möglich Wasser über den Zuckerwürfel. Für den maximalen Genuss – um nicht nur den Geschmack, sondern auch das Ritual voll auszukosten – verwendet man jedoch eine sogenannte „Absinth-Fontäne“. Dabei handelt es sich um einen Wasserbehälter, der mit einem oder mehreren Ventilen bzw. kleinen Wasserhähnen ausgestattet ist. Diese Auslassöffnungen können so fein justiert werden, dass sie gleich einer Pipette das Wasser Tropfen für Tropfen aus dem Behälter über den Zuckerwürfel ins Glas entweichen lassen. Selbstverständlich kann man auch hier endlos über die „optimale Durchflussgeschwindigkeit“ diskutieren. Ein guter Startwert ist ein Tropfen pro Sekunde.
Das Böhmische Ritual
Beim Böhmischen Ritual – auch Feuerritual – handelt es sich um einen Marketing-Trick der Absinthproduzenten der 1990er Jahre -, denn Feuer sieht zunächst einmal spektakulär aus. Bei der geschmacklichen Beurteilung scheiden sich jedoch die Geister: Für die einen ist die zusätzliche „Karamell-Note“ eine Bereicherung, für die anderen ruiniert sie die feinen Aromen.
Der wesentliche Unterschied zum Französischen Ritual: Der Würfelzucker wird in Absinth getränkt, auf den Löffel gelegt und angezündet. Sobald der Zucker karamellisiert (also braune Blasen wirft), löscht man ihn mit dem Wasser ab.
Eine weitere Variante aus der tschechischen Kneipenszene: Den Absinth als Shot zu trinken. Hier herrscht dann doch weitgehend Einigkeit darüber, dass dabei Geschmack und Aromenvielfalt zweitrangig sind.
Zutaten
- 30 ml Absinth
- 90 ml eiskaltes Wasser
- 1 Zuckerwürfel
Zubereitung
Den Absinth in ein Absinthglas gießen. Danach den Zuckerwürfel auf dem Absinthlöffel platzieren und den Absinthlöffel über das Glas legen. Nun langsam das vorgekühlte – eiskalte! – Wasser über den Zuckerwürfel träufeln bis er sich aufgelöst hat. Mit dem Löffel noch einmal leicht umrühren.
Dekoration
Louche-Effekt
Zutaten
- 30 ml Absinth
- 90 ml eiskaltes Wasser
- 1 Zuckerwürfel
Zubereitung
Den Absinth in ein Absinthglas gießen. Danach den Zuckerwürfel auf dem Absinthlöffel platzieren und den Absinthlöffel über das Glas legen. Den Zuckerwürfel mit einem Spritzer Absinth tränken und anzünden. Sobald der Zucker anfängt zu karamellisieren, das Ganze mit kaltem Wasser ablöschen. Wasser weiter über den Zuckerwürfel träufeln bis er sich aufgelöst hat. Mit dem Löffel noch einmal leicht umrühren.
Dekoration
Louche-Effekt im Glas und eine schwarze Kruste auf dem Absinthlöffel
Zutaten
- 30 ml Absinth
Zubereitung
Den Absinth in ein Shot-Glas geben. Für einen Show-Effekt kann er flambiert werden.
Achtung: Absinth ist hochprozentig und hört von alleine so schnell nicht mehr auf zu brennen. Mach dir also vor dem Flambieren Gedanken darüber, wie du ihn wieder ablöschen willst. Denk daran, dass er auch nach dem Ablöschen noch heiß ist.
Achtung: Nicht jedes Glas ist hitzebeständig. Es besteht die Gefahr, dass das Glas zerspringt und sich der brennende Alkohol wahllos auf dir, deinen Gästen oder deiner Einrichtung verteilt.
Dekoration
keine
Wie er aussieht
Farbe
Absinth wird nicht umsonst „Die grüne Fee“ genannt. Die grünliche Färbung kommt von dem in den Kräutern enthaltenen Chlorophyll (aus dem Altgriechischen ins Deutsche übersetzt: Blattgrün).
Leider übernimmt diese Funktion heute eine weitere „wichtige“ Zutat, nämlich grüner Lebensmittel-Farbstoff. Ich versuche das differenziert zu betrachten: Natürlich möchte „der Verbraucher“ immer eine gleichbleibende Qualität des Produkts haben, und dazu gehört nun einmal auch eine gleichbleibende Farbe. Weil das aber bei einem Naturprodukt schwer bis unmöglich zu erreichen ist, helfen die Hersteller mit Farbstoff gerne etwas nach. Diese Vorgehensweise ist auch bei anderen Spirituosen weit verbreitet: So werden beispielsweise die meisten Whisk(e)ys vor der Abfüllung mit Zuckerkulör (E150) gefärbt, was jedoch keine Auswirkung auf den Geschmack haben soll.
Die natürliche Farbe eines Absinths sollte idealerweise auch aus der Natur stammen, sprich aus den Kräutern, die darin enthalten sind. Je nach Herstellungsverfahren und den verwendeten Zutaten bewegt sich die Farbe zwischen einem zartem Gelb und gedecktem Grün, in Summe jedenfalls deutlich heller und „leichter“ als die (Grünglas-) Flaschen, in denen Absinth regelmäßig verkauft wird, mich das haben vermuten lassen.
Absinth, der sich in diesem „natürlichen“ Farbspektrum bewegt, geht für mich vollkommen in Ordnung. Eine Abneigung habe ich persönlich gegen „unnatürliche“ Farben, egal bei welchem Lebensmittel. Das hat noch nicht einmal unbedingt etwas mit dem Geschmack oder den Inhalts- und Aromastoffen zu tun: In rotem Ketchup sind genauso viele „Tomaten“ drin, wie in blauem Ketchup. Trotzdem finde ich letztere Variante unappetitlich.
Und so ist es auch mit knallgrünem Absinth (und anderen Spirituosen wie z. B. Crème de Menthe): Wenn die Flüssigkeit aussieht wie ein Waldmeister-Wackelpudding oder der fluoreszierende Inhalt einer Libelle in der Wasserwaage, dann trifft das nicht ganz meinen Geschmack. Zumindest optisch, denn wie beim Whisky wird man auch beim Absinth den künstlichen Farbstoff nicht herausschmecken können.
Louche-Effekt
Absinth ist eine klare Flüssigkeit. Gibt man jedoch Wasser hinzu, wird die Flüssigkeit milchig-trüb. Diese Trübung nennt man Louche-Effekt (französisch louche: trüb, undurchsichtig, verschleiert). Verantwortlich hierfür ist das ätherische Öl Anethol, das zwar sehr gut in Alkohol, aber sehr schlecht in Wasser löslich ist. Wie der Name Anethol vermuten lässt, stammt es (hauptsächlich) von dem im Absinth enthaltenen Anis, teilweise auch von dem Fenchel. Den gleichen Effekt kann man daher auch bei anderen anishaltigen Spirituosen wie z. B. Ouzo beobachten.
Beobachtung: Der Louche-Effekt ist umso stärker, je kälter das Wasser ist.
Und bei mir?
Zunächst einmal muss ich gestehen, dass ich – als ich mir den Absinth gekauft habe – tatsächlich eine knallgrüne Flüssigkeit erwartet habe. Ich war fast ein wenig enttäuscht, als die ersten Milliliter im Glas landeten.
Was die Zugabe von Eiswasser angeht, um den Louche-Effekt zu erreichen, wurden meine Erwartungen jedoch voll erfüllt. Was mich zudem wundert ist, wie lange dieser anhält. Selbst als die Mischung (fast) wieder Zimmertemperatur erreicht hat, bleibt die Flüssigkeit getrübt.
Wie er schmeckt
Hier gibt es keine Überraschung: Die Hauptzutaten von Absinth sind (Stern-) Anis, Fenchel und Wermut – und genau danach schmeckt er auch.
Um genauer und ehrlicher zu sein: Anis schmecke ich sofort und am deutlichsten heraus. Dieser Geschmack ist mir durch andere Spirituosen wie Ouzo und Rakı bereits vertraut – auch hier vor allem in gekühlter Form mit Louche-Effekt. Oft bekomme ich zu hören und zu lesen, dass es sich dabei um einen Lakritz-Geschmack handeln soll. Das kann ich so nicht bestätigen: Für mich schmeckt Anis nach Anis und Lakritze nach alten Autoreifen – das Zeug bleibt mir im Hals stecken (ein einziges Lakritz-Bonbon verseucht eine ganze Tüte Haribo Colorado).
Der Fenchel, der für mich geschmacklich nahe beim Anis liegt, ist mir ebenfalls vertraut. Daher kann ich auch diesen geschmacklich isolieren.
Aber dann ist da noch dieser ungewohnte Geschmack im Hintergrund, der sich sofort in der Nase festsetzt und einen beim Schlucken etwas Würgen lässt. Das muss dann wohl entweder der Wermut sein (den ich „roh“ jedoch nicht kenne) oder die Kombination der anderer Kräuter.
Diese dritte Dimension ist je nach Absinth-Sorte mehr oder weniger ausgeprägt. Bei meinem „Absinth Pernod – Recette Traditionnelle 68%“ ist sie kaum bzw. sehr „weich“ und gaumenschmeichelnd vorhanden; das verwundert auch nicht, muss dieses „Standardprodukt“ doch möglichst massenkompatibel sein. Bei einer Freundin – und leidenschaftlicher Absinth-Trinkerin – hatte ich die Gelegenheit, den „Alandia Verte“ zu verköstigen. Dort ist mir dieser Beigeschmack weitaus(!) deutlicher aufgefallen – wobei ich bis heute noch nicht eindeutig sagen kann, ob ich das als gut oder schlecht beurteilen soll.
Bis ich mir hierüber ein abschließendes Urteil gebildet habe, ist wohl noch das ein oder andere Gläschen fällig 🙂