Was dahinter steckt

Wer, wie, was? Wieso, weshalb, warum?

Was hat Winston Churchill, bekannt für trockene Sprüche und noch trockenere Martinis, mit Manhattan zu tun? Und was mit dem Manhattan?

Es heißt ja: „Die Welt ist ein Dorf.“ – und das gilt ebenso für die Cocktail-Welt.

Churchills Großvater mütterlicherseits war ein Herr namens Leonard Walter Jerome. Dieser war Geschäftsmann, Rechtsanwalt und Börsenspekulant. In seiner letztgenannten Rolle hat er regelmäßig viel Geld an der Wallstreet verdient (und auch wieder verloren), was ihm den Spitznamen „King of Wall Street“ einbrachte.

Leonard Walter Jerome wurde im US-Bundesstaat New York geboren. Im Laufe seiner Karriere verschlug es ihn alsbald nach New York City, genauer gesagt nach Manhattan. Dort ließ er sich an der Ecke East 26th Street und Madison Avenue, direkt am Madison Square Park, – diametral gegenüber steht das bekannte Flatiron Building – ab 1859 (s)ein Herrenhaus, das „Jerome Mansion„, errichten.

Leonard W. Jerome Mansion, 32 East Twenty-sixth Street, New York County, NY

Das Gebäude wurde 1865 fertiggestellt und prägte rund 100 Jahre das Stadtbild zwischen dem Flatiron District und Rose Hill. Im Jahr 1967 musste es einem richtig, richtig (wirklich richtig!) hässlichen Hochhaus, dem New York Merchandise Mart, weichen. Dieses steht eingekeilt zwischen zwei weitaus ansehnlicheren Blocks, nämlich dem Metropolitan Life North Building im Art-Deco-Stil und dem New York Life Insurance Building im Stile der Neo-Gotik.

Doch zurück ins Jerome Mansion des 19. Jahrhunderts: Besonders lange residierte der Erbauer samt seiner Familie dort nicht. Bereits 1867 siedelten sie nach Brooklyn über.

Nach diesem Um- bzw. Auszug diente das Gebäude verschiedenen Vereinen und Clubs als Sitz – so auch ab 1899 dem berühmten Manhattan Club, das (zumindest anfangs) demokratische Pendant zum konservativen Union Club. In ebendiesem Manhattan Club soll Mitte der 1870er Jahre der nämliche Cocktail erfunden worden sein, von einem Herrn Dr. Iain Marshall, und zwar auf einem Bankett, das Gastgeberin Jennie Jerome, also Winstons Mutti, zu Ehren von Samuel J. Tilden, dem späteren Gewinner Verlierer der Präsidentschaftswahl von 1876, veranstaltete.

Diese Geschichte finde ich aus mehreren Gründen unglaubwürdig: Zunächst einmal ist der Manhattan Club erst 1899 in das Jerome Mansion eingezogen, das Bankett wurde aber bereits 1874, also 25 Jahre zuvor, veranstaltet. Statt Alkohol auszuschenken dürfte die gute Jennie ziemlich genau zu dieser Zeit wohl eher mit Winston in den Wehen gelegen haben, und zwar auf der anderen Seite des Atlantiks, in England.

Trotz allem: Die Geschichte (und natürlich der Cocktail selbst) haben den Club überdauert. Dieser hat sich im Jahr 1979 aufgelöst.

Die goldene Spitze im linken Bildteil gehört zum Dach des New York Life Insurance Buildings (siehe Google Maps). Ungefähr dort, ein Block weiter südlich, stand früher das Jerome Mansion.

Wie er gemacht wird

Zutaten, Zubereitung und Zierrat.

Whiskey und Vermouth

In den Quellen, welche mir zur Verfügung stehen, tauchen die ersten Rezepte für den Manhattan ab Mitte der 1880er Jahre auf. In der Regel ist dort lediglich allgemein von „Whiskey“ und „Vermouth“ (alternative Schreibweise: „Vermuth“) die Rede.

Zwei Abweichungen sind mir bei der Recherche besonders in Erinnerung geblieben: Im Rezept von O. H. Byron („The Modern Bartenders‘ Guide“ von 1884) wird „Whisky“ ohne „e“ geschrieben und auch der Zusatz „American“ fehlt. Das beflügelt natürlich die Fantasie. Im Rezept von Charlie Paul („American and Other Drinks“ aus dem selben Jahr) wird dagegen sogar explizit nach Scotch, also schottischem Whisky, verlangt.

Beim „Whiskey“ mit „e“ dürfte es sich nach landläufiger Schätzung nicht um Bourbon, sondern um Rye gehandelt haben. Dafür spricht einerseits die Zeit (19. Jahrhundert), andererseits der Ort (Rye war vor allem im Nordosten der USA verbreitet, Bourbon im Süden). Ab den 1930er Jahren wird in den Rezepten immer häufiger explizit nach Rye verlangt, und auch das „offizielle IBA-Rezept“ lautet auf Rye Whiskey.

Auch der Vermouth wird anfänglich nicht näher spezifiziert. Was dagegen in den alten Rezepten regelmäßig zu finden ist, später jedoch fehlt, ist „Gum Syrup“. Dabei handelt es sich um ein Zuckersirup im Mischungsverhältnis Zucker zu Wasser von 2:1, d. h. es ist süßer als das gewöhnliche „Simple Syrup“ im Verhältnis 1:1. Dies legt den Schluss nahe, dass der Manhattan – beispielsweise im Vergleich zum Martini – als „süßer“ Cocktail angedacht war. Wenn du heute in einer Bar also einen Manhattan bestellst, bekommst du ihn für gewöhnlich mit italienischem (d. h. rotem, d. h. süßem) Wermut serviert – also genau anders herum als bei einem Martini, bei dem sich die trockene Variante mit französischem Wermut als Standard durchgesetzt hat.

Da wir schon den Vergleich mit dem Martini angestellt haben: Auch aus dem Grundrezept eines Manhattans lassen sich eine Vielzahl von Varianten ableiten: So gibt es beispielsweise den Dry Manhattan mit französischem Wermut oder den Perfect Manhattan mit zur Hälfte italienischem und zur Hälfte französischem Wermut.

Zucker und Curaçao

Wie oben schon angesprochen, ist Zucker in Form von „Gum Syrup“ fester Bestandteil der Rezepte des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts. In den späteren Rezepten, ungefähr ab den 1930er Jahren, in denen auch explizit nach italienischem (also süßem) Wermut verlangt wird, sucht man den Zuckersirup vergebens.

Zeitgleich mit dem Zuckersirup verschwindet auch eine weitere Komponente des Cocktails aus den Rezeptbüchern, nämlich der Curaçao. Auch dieser Orangenlikör war anfangs fester Bestandteil des Manhattans, taucht später aber nirgends mehr auf.

Das Verschwinden der beiden Zutaten mag dem allgemeinen Trend geschuldet sein, nach dem ab Mitte des 20. Jahrhunderts die Cocktails immer trockener gemischt wurden. Auch hier ist das beste Beispiel wieder – und so schließt sich der Kreis – der Churchill Martini.

Kirschen und Likör

Unten sind zwei Fotos abgebildet. Das eine zeigt eine Schale voller in Maraschino-Likör eingelegter Maraska-Kirschen. Das andere zeigt eine Schale voller in Salzlake eingelegter, geschwefelter, gebleichter, in Maltose-Sirup getränkter und in Farbstoff (Erythrosin E127 oder Allurarot AC E129) gekochter Biomasse.

Bedauerlicherweise ist beides unter der Bezeichnung „Cocktail-Kirsche“ oder „Maraschino-Kirsche“ im Handel erhältlich. Aber nur eine Variante davon wollen wir tatsächlich auch in unserem Cocktail haben – errätst du welche? 😉

Hinweis: Wer als Freizeit-Chemikus die leuchtendrote Variante in seinem Heimlabor nachbauen will, findet hier die passende Anleitung dafür.

Der Manhattan schreit meiner Meinung nach gerade danach, mit einigen Spritzern (oder Barlöffeln?) Maraschino-Likör, Kirschschnaps oder -saft abgeschmeckt zu werden. Allerdings stehe ich mit dieser Meinung ziemlich alleine da, denn in den gängigen Quellen finde ich keinen Hinweis darauf.

Für meinen ersten Versuch halte ich mich eng an das etablierte Rezept: Ich verwende brav Rye und Sweet Vermouth und lasse alle Extravaganzen wie Curaçao und diverse Kirschwässerchen – ob mit oder ohne Alkohol – weg (dieses Experiment wird irgendwann Gegenstand eines separaten Artikels sein).

Bei der Dekoration greife ich – mangels Verfügbarkeit von „richtigen“ Maraschino-Kirschen im nächstgelegenen Supermarkt – auf eingelegte Schattenmorellen zurück. Der Optik tut das gut, dem Geschmack keinen Abbruch (es landet davon ja nichts im Getränk).

Zutaten

  • 60 ml Rye Whiskey
  • 30 ml Sweet Vermouth
  • 2 Spritzer Angostura Bitters

Zubereitung

Alle Zutaten in ein mit Eiswürfeln gefülltes Rührglas geben. Gut umrühren. In ein vorgekühltes Martini-Glas abseihen.

Dekoration

Drei aufgespießte Schattenmorellen.

Zutaten

  • 50 ml Rye Whiskey
  • 20 ml Sweet Red Vermouth
  • 1 Spritzer Angostura Bitters

Zubereitung

Alle Zutaten in ein mit Eiswürfeln gefülltes Rührglas geben. Gut umrühren. In ein vorgekühltes Cocktail-Glas abseihen.

Dekoration

Mit einer Cocktail-Kirsche garnieren.

Dieses Rezept ist angelehnt an die Rezepte der 1880er Jahre, über die ich bei meiner Recherche gestolpert bin. Wie oben schon angesprochen enthielten diese regelmäßig sowohl Gum Syrup als auch Curaçao. Eine weitere Besonderheit liegt im Mischungsverhältnis von Whiskey und Vermouth: Dieses lag früher nämlich bei 1:1. Der Manhattan war damit ursprünglich ein vergleichsweise süßer Cocktail!

Hinweis: Nach weiterer Recherche habe ich in einer Rezeptsammlung der Chicago Bartenders and Beverage Dispensers Union aus dem Jahre 1945 ein vergleichbares Rezept unter der Bezeichnung „Manhattan (Southern Style)“ entdeckt. Woher diese Bezeichnung stammt, erschließt sich mir jedoch nicht.

Zutaten

  • 60 ml Rye Whiskey
  • 60 ml Sweet Vermouth
  • 1 Barlöffel Curaçao
  • 1 Barlöffel Gum Syrup
  • 2-3 Spritzer Angostura Bitters

Zubereitung

Alle Zutaten in ein mit Eiswürfeln gefülltes Rührglas geben. Gut umrühren. In ein vorgekühltes Coupe-Glas abseihen. Eine Zitronenzeste darüber ausdrücken, um die ätherischen Öle freizusetzen.

Dekoration

Keine (alternativ: eine Zitronenzeste).

Zutaten

  • 60 ml Rye Whiskey
  • 30 ml Sweet Vermouth
  • 3 Spritzer Angostura Bitters

Zubereitung

Alle Zutaten in ein mit Eis gefülltes Rührglas geben. Umrühren bis alles ausreichend verdünnt ist (ca. 25 Sekunden).

Dekoration

Mit einer Maraschino-Kirsche oder einem Orangen-Twist garnieren.

Link & Video

Hier geht’s zum Rezept auf stevethebartender.com.au.

Zutaten

  • 50 ml Rye Whiskey (Michter’s Straight)
  • 20 ml Sweet Vermouth (Antica Formula)
  • 2 Spritzer Angostura Bitters
  • ein Stück Orangen- oder Zitronenschale

Zubereitung

Ein Stück Orangen- oder Zitronenschale vorbereiten (es muss nicht schön aussehen, da es nur für das Öl und nicht als Dekoration verwendet wird). Alle Zutaten in ein Rührglas geben, mit so viel Eis auffüllen wie möglich und umrühren bis der gewünschte Grad an Verdünnung erreicht ist. In ein vorgekühltes Coupe-Glas abseihen und die Orangenschale über dem Drink auspressen, um das Öl freizusetzen. Mit einer Kirsche garnieren.

Dekoration

Eine Morello-Kirsche

Link & Videos

Hier gibt’s das Rezept auf behindthebarwithcaradevine.com.

Wie er aussieht

Wen das Auge nicht überzeugen kann, überredet auch der Mund nicht.

Je nach den verwendeten Zutaten und dem Mischungsverhältnis, aber auch je nach verwendetem Glas und Lichteinfall, tendiert die Tönung des Manhattans wahlweise ins Bräunliche oder Rötliche. In meinem Fall präsentiert er sich in einem tiefen Rubinrot, genau so wie ich ihn mir vorgestellt habe. (Na gut, vielleicht habe ich mit etwas rotem Wermut nachgeholfen. Vielleicht auch mit einem Spritzer dunklem Kirschsaft von den eingelegten Schattenmorellen.)

Wie er schmeckt

De gustibus non est disputandum: Vorurteile, erster Eindruck, Tasting Notes und zweiter Eindruck.

Das Aussehen verspricht etwas erfrischend-fruchtiges – ein erster Eindruck, der sich aber weder in der Nase noch am Gaumen bestätigt. Da habe ich mich wohl von der tiefroten Farbe und der Kirschdeko in die Irre führen lassen. Das bedeutet jedoch nicht, dass er mich enttäuscht oder gar „schlecht schmeckt“. Er schmeckt nur eben anders als erwartet. Weniger fruchtig, weniger süß, trotz der Extraportion italienischem Wermut.

Der Manhattan ist für mich kein Cocktail, den man an lauen Sommerabenden – oder jemals – zur Erfrischung trinkt. (Gibt es überhaupt Erfrischungsdrinks, die up, also nicht auf Eis, serviert werden?) Der Manhattan ist für mich auch kein Cocktail, den man (für) sich mischt und alleine trinkt. Er ist überall dort anzutreffen, wo auch Martini & Co. heimisch sind, in etwas höherklassigen (und -preisigen) Gefilden wie Empfängen, Banketts oder Firmenfeiern, jedenfalls in (einer) Gesellschaft, in der man sich selbst und andere beweihräuchern darf, ohne dafür verurteilt zu werden. Man nimmt ihn im Salon nach dem Diner oder an Stehtischen im Atrium zu sich, zusammen mit Geschäftspartnern und flüchtigen Bekannten, bei denen man mit Smalltalk die Zeit bis zum nächsten Programmpunkt überbrücken muss.

Oder man genießt den Manhattan mit Kollegen auf einer After-Work-PartyVerabredung, hier aber in kleiner Runde von drei oder vier Personen, der harte Kern, unter der Woche, nachts, nach den üblichen Überstunden, zur Würdigung der gemeinsamen Anstrengung auf einem vermeintlich wichtigen Projekt, irgendwo in einer überdurchschnittlich teuren Bar mit einem überdurchschnittlich teuren Thema (gerade so teuer, dass man es sich als Berufseinsteiger noch leisten kann, sich aber deutlich vom Pöbel an der Bar um die Ecke abhebt), eine Bar, wo definitiv keine Fernseher an der Wand hängen, weder für Sportergebnisse noch für Aktienkurse, und wo der Barkeeper im unifarbenen Leinen- und nicht im rotkarierten Flanellhemd still seinen Dienst verrichtet aus Respekt vor dem anstrengenden Tagwerk seiner Gäste und seinen Gästen gegenüber, ganz so wie die Bedienung, die am Tisch flüsternd die Bestellung aufnimmt, um die Ruhe des Ambientes zu wahren und um niemanden aus seinen Träumereien des ausklingenden Tages zu reißen, denen man in gedämpftem Licht, bei dem man nie die ganze Lokalität überblickt und sich nie sicher ist, ob man denn schon zu den letzten Gästen vor Ladenschluss gehört, so leicht verfällt.

Ihr seht, der Manhattan weckt recht konkrete Erinnerungen Assoziationen in mir 😬

Auf jeden Fall mixt und trinkt man den Manhattan im Anzug.