Was dahinter steckt
Beim Sidecar handelt es sich um einen weiteren Klassiker der Cocktailgeschichte. Und wie bei so vielen Klassikern herrscht auch hier Uneinigkeit darüber, wer ihn wann und wo erfunden haben soll. Auf das Wer will ich hier nicht weiter eingehen – Namen von Personen merke ich mir mangels Interesse meist ohnehin kaum. Das Wann ist um die Zeit des ersten Weltkriegs einzuordnen, schriftlich erwähnt wird er jedoch erst einige Jahre später, in verschiedenen Rezeptbüchern der 20er und 30er Jahre. Das Wo ist letzten Endes wahlweise in London oder Paris anzusiedeln, ein Umstand, der sich heute noch in den unterschiedlichen „Schulen“ ausdrückt, also in der Auffassung, wie der Cocktail zubereitet werden muss (siehe unten).
Weitgehende Einigkeit herrscht dagegen darüber, dass der Sidecar – aus welchen Gründen auch immer – tatsächlich nach dem Beiwagen eines Motorrads benannt ist. Behelfsweise erzählt man sich die Geschichte von einem amerikanischen Hauptmann, der während des ersten Weltkriegs mit seinem Motorrad in einem kleinen Pariser Bistro (vielleicht sogar Harry’s Bar?) einen Boxenstopp eingelegt haben soll.
Im Gegensatz zu den Halbwahrheiten, die sich um Erfindung und Entstehung zu Beginn des letzten Jahrhunderts drehen, wartet die jüngere Geschichte mit folgenden interessanten Fakten auf: Der Sidecar war einer der 50 Cocktails, die es im Jahr 1961 auf die allererste Liste der IBA Official Cocktails geschafft haben. Bei den IBA Official Cocktails handelt es sich überwiegend um Cocktailklassiker, die als international anerkannt gelten und die weltweit in Bars zu bekommen sind. Die Liste wird in unregelmäßigen Zeitabständen überarbeitet, um sich dem geänderten Geschmack und dem Zeitgeist anzupassen. Die Tragödie: Nach über 40 Jahren fiel der Sidecar bei der dritten Überarbeitung im Jahr 2004 dem Rotstift zum Opfer. Die Enttäuschung war jedoch nur von kurzer Dauer: Schon bei der nächsten Gelegenheit (im Jahr 2011) hat er sich seinen Platz im Olymp zurückerobert. Ein außergewöhnliches Schicksal, das sich neben dem Sidecar nur wenige andere Drinks teilen, so z. B. der Stinger oder die White Lady.
Wie er gemacht wird
Wie eingangs schon erwähnt, sind aus der Historie heraus zwei unterschiedliche „Schulen“ entstanden, die jeweils eine unterschiedliche Zubereitungsart „lehren“.
Bei der French School handelt es sich um ein equal-parts-Rezept, d. h. alle drei Zutaten kommen zu gleichen Teilen in den Shaker. Die Notation hierfür lautet „1:1:1“ (also ein Teil Cognac, ein Teil Triple Sec und ein Teil Zitronensaft) oder eben „1/3, 1/3, 1/3“. Neben diesem Mengenverhältnis ist der French School, wie könnte es auch anders sein, die Verwendung von „richtigem“ Cognac besonders wichtig. Cognac ist heute eine geschützte Herkunftsbezeichnung für einen Weinbrand, hergestellt aus Weißweinen, aus der französischen Stadt Cognac und den umliegenden Weinbaugebieten.
Bei der English School handelt es sich um das Rezept von Harry Craddock, dem Autor des berühmten „Savoy Cocktail Book“ aus dem Jahre 1930. Das Mischungsverhältnis beträgt hier 2:1:1, d. h. die Basisspirituose ist hier stärker vertreten. Bei dieser muss es sich auch nicht notwendigerweise mehr um Cognac handeln, ein anderer Brandy (Weinbrand) tut’s auch.
Und wie lautet nun das „offizielle“ Rezept der IBA? Auch hier gibt es Interessantes zu beobachten: Wie oben schon erwähnt, wird die Liste der IBA Official Cocktails alle paar Jahre angepasst, um auf veränderte Verbraucherverhalten und -geschmäcker einzugehen. Dabei muss nicht immer gleich der ganze Cocktail von der Liste gestrichen werden (obwohl das dem Sidecar auch schon einmal passiert ist), manchmal reichen auch mehr oder minder umfangreiche Änderungen am Rezept aus (was mich wieder zu einer meiner Lieblingsfragen bringt: Wie viel darf von einem Rezept verändert werden, ohne dabei etwas Neues zu kreieren?).
Ein Vergleich der offiziellen IBA-Rezepte für den Sidecar über den Zeitraum von 1961 bis 2020 liefert folgende Ergebnisse:
- Die Zutaten bleiben stets die selben, nämlich Cognac, Triple Sec und Zitronensaft.
- Das Mischungsverhältnis im ursprünglichen Rezept von 1961 lautet 5:2:2 bzw. 2,5:1:1, was ungefähr der englischen Schule entspricht. Dieses Mischungsverhältnis gilt auch in den Rezeptsammlungen von 2011 und 2020.
- In den Jahren 1987 und 1993 hat sich das Mischungsverhältnis auffallend verändert, nämlich auf 6:3:1. Der Drink enthält also einen wesentlich höheren Anteil der hochprozentigen Basisspirituose und kaum mehr als einen Spritzer Zitronensaft. Allerdings ist auch diese Idee nicht neu: Ich habe etwas Cocktail-Archäologie betrieben und bin im Buch „The Art Of Drinking More“ von Dexter Mason aus dem Jahr 1930 auf ein ähnliches Rezept gestoßen. Dort ist von einem Mischungsverhältnis von 3:1:0,5 bzw. 6:2:1 die Rede.
Zutat | French School | English School | IBA 1961 | IBA 1987 |
Brandy / Cognac | 1 | 2 | 2,5 | 6 |
Triple Sec / Cointreau | 1 | 1 | 1 | 3 |
Zitronensaft | 1 | 1 | 1 | 1 |
In meinem Barbestand befindet sich noch kein Cognac, Brandy oder Weinbrand. Das liegt daran, dass ich ihn bislang weder pur getrunken noch in anderen Cocktails verwendet habe. Für den ersten Versuch möchte ich mir auch erst einmal keine teure Flasche zulegen. Stattdessen springe ich kurz vor Ladenschluss in den nahegelegenen Discounter und kralle mir vom Regal an der Kasse ein Probierfläschchen Chantré. Ja, ich weiß: Das hatten die IBA-Gründerväter wohl nicht im Sinn, als sie im Rezept etwas von Cognac oder Brandy geschrieben haben. Trotzdem, ich bin mutig und ungeduldig genug, um es darauf ankommen zu lassen. Aus den gleichen Gründen muss mir als Einstieg in das Thema „Weinbrand“ dieser Artikel hier auch erst einmal ausreichen: Man genießt den feinen Geist des Weines – Chantré Weinbrand vs Asbach Urbrand.
Serviert wird der Sidecar traditionell mit einem Zuckerrand am Glas. Wer glaubt, das sei nur neumodischer Schnickschnack, den muss ich enttäuschen: Spätestens seit den 1930er Jahren ist der Zuckerrand schriftlich überliefert (z. B. im Buch „Gordon’s Cocktail & Food Recipes“ von Jerry Gordon aus dem Jahr 1934).
Zutaten
- 50 ml Chantré
- 20 ml Cointreau
- 15 ml frisch gepresster Zitronensaft
Zubereitung
Alle Zutaten in einen Shaker geben, gut mit Eis durchschütteln, in ein vorgekühltes Cocktail-Glas abseihen.
Dekoration
Glas mit Zuckerrand, eine Zitronenzeste.
Zutaten
- 50 ml Cognac
- 20 ml Triple Sec
- 20 ml frisch gepresster Zitronensaft
Zubereitung
Alle Zutaten in einen Shaker geben, gut mit Eis durchschütteln, in ein vorgekühltes Cocktail-Glas abseihen.
Dekoration
keine
Leandro von The Educated Barfly hält sich (wie ich) ebenfalls mit dem Zitronensaft zurück, verwendet dafür aber etwas mehr von dem Orangenlikör. Das Mischungsverhältnis beträgt hier 3:2:1.
Zutaten
- 45 ml Cognac
- 30 ml Cointreau
- 15 ml frisch gepresster Zitronensaft
Zubereitung
Alle Zutaten in einen Shaker geben. Eis hinzufügen und für 8 bis 10 Sekunden schütteln. In ein Coupe-Glas abseihen.
Dekoration
Glas mit Zuckerrand.
Video
Dave von Booze On The Rocks liefert eine ganz eigene Interpretation des Sidecars und bricht dabei mit vielen Konventionen. Als Alternative zum Cognac schlägt er beispielsweise Bourbon vor, auf den Zuckerrand verzichtet er ganz. Auch das Mischungsverhältnis von 6:3:2 entspricht keiner „klassischen“ Schule. Fehlt nur noch, dass er den Sidecar im Highball-Glas auf Eis serviert 😉
Zutaten
- 60 ml Cognac oder Bourbon
- 30 ml Cointreau oder Triple Sec
- 22 ml frisch gepresster Zitronensaft
Zubereitung
Alle Zutaten in einen Shaker geben. Eis hinzufügen und für 30 Sekunden schütteln. In ein Martini-Glas abseihen.
Dekoration
Eine Zitronenzeste.
Video
Wie er aussieht
Während ich den Cocktail nach dem Shaken ins Martini-Glas abseihe, macht sich fast so etwas wie Enttäuschung breit. Denn der Farbton ist bei weitem nicht so fruchtig, spritzig, erfrischend gelb wie ich das von Fotos bislang kenne. Denknotwendigerweise tendiert er durch den hohen Anteil an Weinbrand und die sonstigen eher farblosen Bestandteile (sieht man einmal von der zarten Trübung des frisch gepressten Zitronensafts ab) eher in Richtung Braun oder Dunkelorange. Also greife auch ich in die unterste Schublade meiner fotografischen Trickkiste: Mit einem zweiten Handy leuchte ich in kurzem Abstand von oben im 90-Grad-Winkel auf den Cocktailspitz. Das Licht bricht sich in der Flüssigkeit und im Glas, der automatische Weißabgleich der Handykamera tut das Übrige und – schwupps! – sieht der Sidecar auf dem Foto so aus wie erhofft.
Wie er schmeckt
Juhu!
Oder etwas ausführlicher:
Da ich Weinbrand bislang nicht auf dem Schirm hatte, gibt es ehrlich gesagt auch keine Erwartungen an den Geschmack. Meine einzige Sorge bei der Zubereitung war, dass der Cocktail gegebenenfalls zu sauer werden könnte, eine Lektion, die ich aus anderen Versuchen bereits gelernt habe. Daher hielt ich mich mit dem Zitronensaft etwas zurück.
Doch bereits beim ersten Schluck kommt Freude auf: Juhu, alles richtig gemacht! Ich halte hier einen fruchtigen, perfekt ausbalancierten und in Summe äußerst leckeren Drink in den Händen! Kaum habe ich das festgestellt, macht sich ein bisschen das schlechte Gewissen breit: Darf ich den Drink tatsächlich so gut finden, auch wenn er mit Cognac Chantré aus dem Quengelregal beim Discounter gemischt ist? Andererseits: Wenn der Drink schon mit billigem Weinbrand so köstlich schmeckt – wie wird er dann erst mit „richtigem“ Cognac munden? Nach dieser gustatorischen Überraschung besteht auf jeden Fall Anreiz genug, das herauszufinden!